Es muss irgendwo zwischen Tag 21 und 23 meiner Radreise von Rheinsheim nach Sizilien gewesen sein, als mich eine Erkenntnis wie ein Fausthieb in die Leber traf. In diesem einen sehr besonderen Moment wurde mir diese eine Sache kristallklar, diese Sache, dass ich gerade in diesem Moment genau das Leben führe, dass ich genau in diesem Moment, in diesen Momenten führen möchte. Ein Gefühl, dass ich hier auf dem Rad mein Leben lassen könnte (nicht wollen würde!) und mit Freudentränen auf ein erfülltes Leben zurückblicken könnte.

DIe illusion der sicherheit

Wochen vor der Radreise war das undenkbar und das, obwohl ich alles hatte, was sich viele für ein ideales Leben auf dieser Welt wünschen. Einen sicheren, gut bezahlten Job, eine 4-Tage-Woche, eine Eigentumswohnung und jede Menge Freiheiten, da alleinstehend und noch keine Kinder. Ich wurde bei RA Consulting mehr geschätzt als irgendwo sonst in meinem bisherigen Berufsleben (dafür bin ich so unendlich dankbar!) und dennoch wusste ich, dass es mich in eine andere Richtung treibt. Ich habe mir meine Eigentumswohnung genau so eingerichtet wie ich es visualisiert hatte und dennoch, hat mich der Ort und die Art des Wohnens nicht gecatcht. Nicht so sehr berührt, wie ich es mir ursprünglich ausgemalt habe. Diese Vorstellung vom sicheren Heim eben.

Ich habe mir wie so oft in meinem Leben den Kopf darüber zerbrochen, warum ich es nicht genießen kann, warum ich dort und dort nicht meine Ruhe finden kann. Ich habe mich wie so oft wieder aufs tiefste selbst erschüttert und mich nach dem Sinn meiner Existenz gefragt. Gibt es den denn überhaupt? Ich hab gezweifelt, prokrastiniert und mich innerlich zurückgezogen. In die Welt der Bücher, Serien und Filme. Ich kam nur schwer mit meiner eigenen Realität zu recht und konnte (wohl eher wollte) mein Bedürfnis nach Leben, Abenteuer, Herausforderung nicht so richtig fassen. Sicher war es der fehlende Mut nach meinem Zusammenbruch, der mich viele Jahre der Aufarbeitung und Arbeit (gekostet) hat. Sicher war es die Hoffnung auf Sicherheit im Leben. Eine Sicherheit, die so in dieser Welt nicht existiert und daher einer Illusion gleicht.

den bedürfnissen folgen

Und dann diese Idee. Während der Radreise von München nach Venedig in 2023 ist etwas mit mir passiert. Ich hab wieder an etwas gekratzt, dass ich lange verloren geglaubt habe. Leidenschaft und die Idee, noch einen Schritt weiterzugehen. Noch intensiver zu leben und wieder meinem inneren Drang zu folgen. Etwas, dass ich versucht hab durch Serien und Film zu kompensieren, dass mir damit aber nie gelungen ist. Sich selbst herauszufordern, die eigenen Grenzen neu definieren, aber mit einer neuen, sehr viel gesünderen Ausgangslage. Ein Punkt, den ich nie ohne externe Hilfe durch Therapien, Coachings, Familie und Freunde erreicht hätte.

Mir wurde klar, wenn nicht jetzt, wann dann. Unter anderem auch, weil ich nicht weiß, wie lange ich solche Abenteuer in dieser Intensität tatsächlich (er-)leben darf, denn es gibt einen sehr ungewissen Faktor in meinem Leben. Mein Alport-Syndrom und damit meine Niereninsuffizienz und Nierenfunktion von noch 40 %. Es kann sein, dass meine Nieren morgen versagen oder auch erst in vielen Jahren. Vielleicht kann ich sogar alt ohne Nierenversagen werden, aber das ist kein Faktor, über den ich Gewissheit, noch einen zeitlichen Rahmen für habe.

rückschläge als teil der reise

Also war klar, that’s my shot! (Danke Eminem für die Inspiration – Loose yourself). Also hab ich einfach angefangen. Angefangen zu planen, zu basteln, zu visualisieren und habe diese Reise so fest in meinem Kopf manifestiert, dass ich sie schon vor Abreise lebendig vor mir gesehen habe. Ich wusste, ich würde ankommen. Ich wusste nur nicht, was gegebenenfalls dazwischen kommen würde, gegebenenfalls die Reise verzögern würde.

Dann kam der Blinddarm-Durchbruch und zwei meiner härtesten Lebensmonate, die ich bisher erleben durfte. Nach der Blinddarm-OP ging’s mir weiterhin sehr schlecht und nach drei Wochen stellte sich heraus, dass sich ein Abszess gebildet hat und mein Bauch wieder voller Bakterien war. Wieder ins Krankenhaus, Drainage rein und hoffen, dass mir eine noch größere OP erspart bleiben würde. Nach meiner Entlassung und 6 weiteren Tagen Antibiotika konnte ich dann langsam endlich aufatmen, denn mir ging es tatsächlich stetig besser.

Blinddarmdurchbruch

Ich war dennoch teilweise paranoid und bei jedem kleinen Ziehen im Bauchraum kamen die Sorgen zurück. Ich war in diesen zwei Monaten öfter beim Arzt und im Krankenhaus als in meinem bisherigen Leben und auch hier habe ich viel gelernt. Viel über das Leid vieler anderer Menschen, die Wochen und Monate im Krankenhaus verbringen, über Schmerzen die keine Linderung zu erfahren scheinen und die unfassbar harte Arbeit vieler Pflegekräfte.

Anyway, ich war in dieser Zeit kurz davor, meine Radreise abzuschreiben und auf dem besten Weg, in meinen altbekannten destruktiven Denkmustern zu verharren. Doch mit der Besserung und dem bedingungslosen Support von Familie und Freunden kam die Hoffnung zurück. Es ging mit besser, ich konnte wieder langsam anfangen zu sporteln und mein Lächeln kam wieder auf die Lippen. Ohne all diesen Support wäre ich sehr wahrscheinlich wieder an mir selbst verzweifelt.

Explosion of emotion

Aus diesem Grund und noch vielen Weiteren wurde am Ende so eine Emotionsexplosion auf der Radreise, dass ich das erste Mal seit langer Zeit gespürt habe: „Ja, ich lebe!“. Ich habe so oft Tränen aus Freude vergossen, so viele positive Selbstgespräche mit mir geführt und so tolle Begegnungen gehabt. Und gleichzeitig hab ich all dies mit einem Lebenselixier für mich verbunden, nämlich den guten Zweck. Denn es erfüllt mich, mich für andere starkzumachen, mich für andere einzusetzen und einen, sei es auch noch so kleinen Beitrag, in dieser Welt zu leisten.

Jeder Einzelne, jede Einzelne von uns ist ein “Pups” in dieser Welt, verglichen mit der Größe von all dem, was wir kennen, dennoch kann selbst der kleinste Pups ein Feuer entfachen! 🫶🏽


Kommentare

8 Antworten zu „Hierfür bin ich bereit zu sterben “

  1. Avatar von Sabine Groß
    Sabine Groß

    Eine tolle Reise und es ist schön, daß du wieder gestärkt und voller Schaffenskraft zurück bist 🫶
    Liebe Grüße Sabine

    1. Vielen Dank für deine lieben Worte, Sabine. <3

  2. Avatar von Anemone

    Einfach ohne Worte, was du da geschafft hast! So inspirierend. Danke dafür! Schön, dass du wohl behalten mit diesen unbezahlbaren Erfahrungen wieder zurück bist…

    1. Vielen Dank liebe Anemone! <3

  3. Avatar von Tobias Kunze
    Tobias Kunze

    Berührend die erhellenden Worte zu lesen, das ist das „Leben“ wie du es gerade „erlebst“ und „durchlebst“. So toll geschrieben. Danke als Wegbegleiter.

    Tobias

    1. Vielen Dank mein lieber Tobias! <3

  4. Avatar von Sascha

    Ich habe großen Respekt vor deiner Abenteuerlust und bewundere, wie ehrlich du zu dir selbst bist! Toller Artikel 🫶🏼

    1. Vielen Dank Sascha und es freut mich, dass dir der Artikel gefällt! <3

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