Früher habe ich das Reisen als eine Selbstverständlichkeit wahrgenommen. Heute sehe ich das mit komplett anderen Augen, ja als Privileg, denn es gibt ganze Kontinente, wo ein sehr geringer Prozentsatz überhaupt die Mittel zum reisen hätte. Und während hauptsächlich die tollen Eindrücke einer Reise mit Freunden und Bekannten geteilt werden, gibt es auch eine andere Realität des Reisens. Diese findet zumeist neben den bekannten Schauplätzen, den Sehenswürdigkeiten und Top-Städten statt.

Die ausgeschmückte Realität

Wir kennen sie alle. Die Hochglanzfotos von berühmten Sehenswürdigkeiten, von lebendigen Städten und traumhaften, kristallklaren Stränden. Fotos, die die Sehnsucht nach der Ferne und dem Entdecken wecken. Man würde am liebsten selber und am besten jetzt gleich an diesen Orten sein, so geht es mir jedenfalls und das nicht sehr selten.

Ich weiß noch genau, als ich das erste Mal Sizilien gegoogelt hab und mir die tollsten Bilder dieser italienischen Insel präsentiert wurden. Da hab ich gar nicht lange gefackelt und mir die Insel als Ziel der Reise gesetzt. Ich hatte damit gleich vor Anbeginn eine sehr hohe Erwartungshaltung an das eigentliche Ziel der Reise. Hab mich halb-nackig am Strand zwischen den Palmen liegen sehen.

Bilder Google Suchergebnis Sizilien

Der Sonne hinterher, ey-yo, was GEHT

Mit dem Rad auf der Reise zu sein, verändert das Zeitgefühl und die Wahrnehmung der Umgebung. Man taucht sehr viel tiefer in die Umgebung ein und nimmt schon kleinste Veränderungen an ihr wahr. Die Beschaffenheit der Straßen, die Art der Bäume, Pflanzen und Gräser. Die Farben des Wassers, die Bauweise von Häusern und die Mentalität der Menschen.

Es ist ein schleichender Übergang von einem Land in das andere, von einer Region in die Nächste. Während so beispielsweise die Fahrradwege in Österreich und Südtirol ein wahres Fest für den Radelflow waren, haben sich die Radwege über die Toskana weiter hin nach Süden immer mehr verschlechtert. Sofern es denn überhaupt Fahrradwege gab.

Die andere Seite der Realität

Während sich also die Umgebung schleichend verändert, verändern sich auch die Lebensbedingungen der Menschen. Je mehr gegen Süden, desto größer wird auch die Schere zwischen der Realität, die wir von Bildern und Berichten kennen und der Realität, die gleich daneben existiert. Die Realität der Armut, des Drecks und Mülls, der Prostitution, der toten Tiere und der Ausbeutung.

Das konnte ich jedenfalls auf dem Weg von Rheinsheim nach Sizilien kaum deutlicher erfahren. Je weiter runter ich radelte, desto größer wurden die Müllberge und man hätte ganze Dörfer und Familien mit den Möbeln und Kleidungsstücken ausstatten können. Müllberge an den Straßen, unter Brücken und direkt zwischen den wunderschönen Palmen und bunten Sträuchern.

Müllhaufen in Palermo

Oft bin ich stundenlang irgendwo in der Pampa gefahren und vor allem auch durch groß angelegte Industriegebiete. Hier saßen irgendwo im Nirgendwo oft Frauen auf Plastikstühlen, die auf ihre Freier gewartet haben. Orte, an denen sich sonst kein Mensch hin verirrt, außer man hat ein konkretes Ziel. Keinerlei Schutz und im Notfall keiner zur Stelle, ganz auf sich allein gestellt.

Menschen mit afrikanischer Herkunft, die mit viel zu kleinen Fahrrädern zur Arbeit auf viel befahrenen Straßen fahren. Die als billige Arbeitskräfte in einer Vielzahl von Bereichen zum Einsatz kommen. Als Feldarbeiter. Landwirte und Obstbauern. Auch zum Beispiel auf einem Campingplatz, auf dem ich war. Der Erste, der morgens auf dem Platz stand und einer der letzten, der Abends ging.

VON Toten Katzen

Je mehr gegen Süden, desto mehr tote Tiere lagen auf den Straßen und wohlgemerkt keiner, der diese von der Straße gekratzt hat. Bei der Geschwindigkeit vieler Fahrer wundert mich das auch ehrlich gesagt kaum. Jedenfalls habe ich in meinem Leben noch nie so viele tote Katzen gesehen. Katzen in allen Größen und Farben. Als großer Katzenliebhaber hat das definitiv etwas bei mir hinterlassen.

Dafür war es umso schöner auf den Campingplätzen und in den Straßen immer wieder mit lebenden Katzen in Berührung zu kommen. Zeit mit ihnen zu verbringen und sie zu streicheln.

Katzenbesuch auf dem Campingplatz
Kazenvibes auf dem Campingplatz bei Syrakus

Spuren hinterlassen

Alles in allem hat mich diese Erfahrung auf sehr vielen Ebenen berührt. Ich war schon viel in ärmeren Ländern unterwegs und habe bereits viel Armut gesehen, aber noch nie diesen schleichenden Übergang so hautnah miterleben dürfen. Vor allem in einem Konstrukt wie Europa, wo in einer Vielzahl von Ländern ein so ein unfassbar enormer Reichtum besteht.

Es sind für mich genau diese Erfahrungen, die mich kontinuierlich meine eigene Lebensweise überdenken lassen. Inwieweit bin ich selbst Verursacher und wie kann ich mein Leben so gestalten, dass ich zum einen möglichst wenig Spuren hinterlasse und noch besser, einen positiven Beitrag zu all dem leisten kann.

Ich werde natürlich noch über die Highlights der Reise berichten, denn neben diesen Schattenseiten gab es selbstverständlich auch viele unfassbare tolle Erlebnisse und Orte.

Liebe und Respekt,
Kevin


Kommentare

2 Antworten zu „Realitätencheck“

  1. Avatar von Roland Gäckle
    Roland Gäckle

    Toller Bericht Kevin der Lust auf mehr macht. Freue mich schon riesig auf deinen Reisebericht!
    LG Roland

    1. Vielen Dank für dein positives Feedback, lieber Roland. Ich werde dann mal anfangen in die Tasten zu hauen. 🙂

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